
Wenn du nicht behindert genug bist – Gedanken zur Unsichtbarkeit innerhalb der Vielfalt
Behinderung jenseits des Sichtbaren – wer nicht ins Raster passt
Viele Behinderungen bleiben unsichtbar – besonders, wenn sie erst im späteren Leben entstehen. Menschen, die als „nicht behindert genug“ gelten und deshalb kaum Aufmerksamkeit oder Unterstützung erhalten. Für viele von ihnen gibt es keine passenden Hilfsmittel – oder sie bringen im Alltag keinen wirklichen Nutzen. Ihre Einschränkungen sind oft nicht auf den ersten Blick erkennbar, doch sie verändern den Alltag grundlegend. Zugänglichkeit bedeutet für sie manchmal: nicht teilzunehmen, weil es schlicht keine passende Lösung gibt. Und dann gibt es diejenigen, die sich bewusst zurückziehen – aus Angst, abgestempelt zu werden oder weil sie kein Etikett tragen wollen.
Diese Perspektive hat mich nicht losgelassen. Denn sie zeigt ein Spannungsfeld, über das wir viel zu selten sprechen – gerade in einer Zeit, in der Inklusion oft als „Zustand“ dargestellt wird, den man einfach herstellt. Ein barrierefreier Eingang, ein Symbolbild auf der Website, ein Inklusionstag im Kalender – fertig.
Aber so funktioniert es nicht.


Auch innerhalb der Community: Wenn Abgrenzung von innen kommt
Ich selbst sitze seit Geburt im Rollstuhl – und trotzdem kenne ich die Erfahrung, als „nicht behindert genug“ wahrgenommen zu werden. Nicht etwa von außenstehenden Personen, sondern von anderen Menschen mit Behinderung.
Sätze wie: „Du hast einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt, lebst selbstbestimmt, brauchst keine Assistenz – was willst du anderen erzählen?“
Ich habe das nicht nur einmal gehört.
Diese Aussagen tun weh. Weil sie einen Vergleich aufmachen, der auf Abwertung basiert. Weil sie die individuelle Anstrengung unsichtbar machen. Und weil sie die Vielfalt innerhalb der Community ausblenden – obwohl genau die unser größtes Potenzial ist.
Zugänglichkeit heißt nicht nur, dass ich mit meinem Rollstuhl ins Gebäude komme. Sie bedeutet auch: psychische Sicherheit, Verständnis für nicht offensichtliche Einschränkungen, Flexibilität, wo keine Standardlösung greift.
Und manchmal bedeutet sie, überhaupt gesehen zu werden. Auch dann, wenn keine Assistenz im Hintergrund sichtbar ist, kein Hilfsmittel hervorsticht oder kein Diagnoseblatt vorliegt. Oder wenn man sich lieber nicht labeln lässt – weil das Label vielleicht mehr Hürden als Türen schafft.
Zugänglichkeit kann auch heißen, dass man nicht erklären muss, warum man nur einen halben Tag schafft. Oder warum man sich zu bestimmten Veranstaltungen nicht anmeldet, weil der Energieaufwand zu hoch wäre. Oder weil man keinen Ort findet, an dem die eigene Einschränkung überhaupt mitgedacht wird.
Diese Zahlen sprechen eine klare Sprache: Psychische Erkrankungen sind keine Randerscheinung, sondern eine zentrale Herausforderung der modernen Arbeitswelt. Sie betreffen nicht nur Einzelpersonen, sondern auch die Teams, die Unternehmen und die gesamte Gesellschaft.
Rückzug, Schweigen, Unsichtbarkeit – wenn Schutz wichtiger ist als Sichtbarkeit
Viele Menschen mit unsichtbaren oder später erworbenen Behinderungen erleben genau das: Sie passen nicht ins Raster. Sie fühlen sich weder in der Welt der „Nichtbehinderten“ ganz zugehörig, noch werden sie innerhalb der Behinderten-Community immer anerkannt.
Was bleibt, ist oft Rückzug. Schweigen. Und ein Gefühl von Unsicherheit, ob man überhaupt „mitsprechen darf“.
Gerade die vielen, die sich nicht laut zu Wort melden, die nicht auf Bühnen oder Panels sitzen, die keine Hashtags posten – sie bringen eine Realität mit, die uns zeigen kann, wie unvollständig unser Bild von Inklusion noch ist.
Und es gibt auch jene, die sich irgendwann bewusst entscheiden, ihr Thema nicht öffentlich zu machen. Aus Selbstschutz. Aus Angst vor Verlust des Arbeitsplatzes. Oder weil sie erlebt haben, wie wenig Verständnis ihnen entgegengebracht wurde, als sie es einmal versucht haben.
Ein weiterer Aspekt, der häufig übersehen wird: Der Übergang von chronischer Krankheit zu einer Form von Behinderung. Viele Menschen entwickeln im Laufe ihres Lebens Einschränkungen, die ihre Teilhabe stark beeinträchtigen – ohne je als „behindert“ zu gelten.
Rheuma, Long Covid, chronische Erschöpfung, Migräne, Endometriose, Diabetes mit Folgekomplikationen – all das kann den Alltag massiv verändern. Die betroffenen Personen funktionieren oft weiter – mit Schmerzmitteln, stillen Rückzügen oder cleverem Zeitmanagement. Doch das Bild von ihnen bleibt oft: belastbar, leistungsfähig, „ganz normal“.
Solche Lebensrealitäten fallen durchs Raster – in der Gesetzgebung, in der öffentlichen Wahrnehmung, im Diskurs über Inklusion.
Nicht jede Behinderung lässt sich „ausgleichen“. Viele erleben, dass es für ihre Einschränkung keine praktikablen Lösungen gibt – oder dass gerade Hilfsmittel neue Barrieren mit sich bringen. Technische Unterstützung ist nicht immer die Antwort. Manchmal geht es um soziale Hürden, mentale Belastungen oder um das Gefühl, schlicht übersehen zu werden.


Inklusion weiterdenken – mehr Raum für Uneindeutigkeit und Grauzonen
In einer Gesellschaft, die stark auf Leistung, Effizienz und Selbstoptimierung ausgerichtet ist, fällt es Menschen mit unsichtbaren Behinderungen oft besonders schwer, offen über ihre Situation zu sprechen.
Denn mit dem Outing kommt häufig nicht Erleichterung – sondern die Angst vor Nachteilen. Im Beruf. Im Freundeskreis. In der medizinischen Versorgung.
Dieser Druck führt nicht selten dazu, dass Menschen sich anpassen, ihre Grenzen überschreiten, sich durchkämpfen – bis es irgendwann nicht mehr geht.
Inklusion darf nicht bedeuten: „Du darfst dazugehören – solange du es gut kompensierst.“
Sie sollte heißen: „Du darfst dazugehören – auch wenn du es heute nicht kannst.“
Inklusion bedeutet nicht nur, zwischen Menschen mit und ohne Behinderung Brücken zu bauen. Es bedeutet auch, die inneren Spannungen, Hierarchien und Ausgrenzungen innerhalb der Community zu sehen – und offen anzusprechen.
Denn: Wenn wir Inklusion ernst meinen, müssen wir auch aufhören, Menschen mit Behinderung nach „Grad“, „Nutzen“ oder „Sichtbarkeit“ zu sortieren.
Was wir brauchen, ist eine breitere Definition von Behinderung, die nicht nur medizinisch oder amtlich gedacht ist – sondern gesellschaftlich, individuell und kontextbezogen. Eine Definition, die die Grauzonen mitdenkt. Die Übergänge, die Unsicherheiten, die versteckten Kämpfe. Und die nicht fragt: Reicht das für einen Ausweis?, sondern: Was brauchst du, damit du teilhaben kannst?
Zum Schluss ein Gedanke
Vielleicht beginnt echte Inklusion genau da, wo wir uns gegenseitig zuhören – auch dann, wenn die Erfahrungen nicht deckungsgleich sind. Vielleicht wächst Gemeinschaft nicht durch Gleichheit, sondern durch gegenseitige Anerkennung der Unterschiede.
Und vielleicht sollten wir aufhören, Repräsentation mit Vereinfachung zu verwechseln.
Denn ein Bild, das nur eine Realität zeigt, macht viele andere unsichtbar.

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