
Männlichkeit und Behinderung – Zwischen Erwartungsdruck und neuen Perspektiven
Männlichkeit und Behinderung – Zwischen Erwartungsdruck und neuen Perspektiven
Ein breites Kreuz, Durchsetzungsvermögen, Unabhängigkeit – so stellen sich viele das Ideal eines „richtigen Mannes“ vor. Doch was ist mit Männern, die diese körperlichen Ideale aufgrund einer Behinderung nicht erfüllen können oder wollen? In aktuellen Debatten um Männlichkeit bleibt die Perspektive von Männern mit Behinderung oft außen vor. Dabei lohnt es sich, genau hinzuschauen: Wie erleben Männer mit Behinderung die Erwartungen an Männlichkeit? Vor welchen besonderen Herausforderungen stehen sie, und welche neuen Chancen ergeben sich durch gesellschaftliche Veränderungen?
Ich habe mir diese Fragen selbst nie gestellt – bis ich merkte, dass andere es taten. Mein Umfeld zweifelte nicht daran, dass ich beruflich etwas erreichen kann oder dass ich mein Leben selbst organisiere. Aber wenn es um Beziehungen, Partnerschaft oder ganz allgemein um die Frage nach Männlichkeit ging, spürte ich immer wieder unterschwellige Zweifel – nicht bei mir, sondern bei anderen. Kann ein Mann im Rollstuhl überhaupt als vollwertiger Mann gelten? Die Antwort ist für mich eindeutig: Ja. Ich hatte Beziehungen und war verheiratet. Dass meine Behinderung in der Ehe eine Rolle spielte, liegt auf der Hand, aber das allein entscheidet nicht über das Gelingen oder Scheitern einer Partnerschaft. Ich habe in dieser Zeit gelernt, dass es in einer Beziehung nicht darum geht, klassischen Rollenbildern zu entsprechen, sondern sich gegenseitig zu ergänzen und auf Augenhöhe zu begegnen.


Männlichkeitsbilder im Wandel – Neue Möglichkeiten für Männer mit Behinderung
Lange Zeit war Männlichkeit eng mit körperlicher Leistungsfähigkeit verbunden. Männer waren die Ernährer, Beschützer und Macher – zumindest laut gängigen Rollenbildern. Doch in den letzten Jahren beginnt sich das Bild zu verschieben. Heute sprechen wir über verschiedene Arten von Männlichkeit. Nicht jeder Mann muss stark und dominant sein, um als „männlich“ zu gelten. Einfühlsamkeit, Teamfähigkeit und Reflexionsfähigkeit gehören zunehmend zu den geschätzten Eigenschaften moderner Männlichkeit.
Dieser Wandel bietet eine große Chance für Männer mit Behinderung. Plötzlich geht es nicht mehr nur darum, wer am meisten Kraft hat oder wer alles allein bewältigt, sondern um innere Qualitäten. Ein Mann, der reflektiert mit Herausforderungen umgeht, sich selbst akzeptiert und Verantwortung übernimmt, wird zunehmend als Vorbild gesehen – unabhängig davon, ob er laufen kann oder nicht.
Auch ich habe irgendwann gemerkt, dass Männlichkeit nicht davon abhängt, ob ich jedes Hindernis physisch überwinden kann. Vielmehr geht es darum, wie ich mit den Herausforderungen umgehe. Männlichkeit bedeutet für mich nicht, immer stark zu sein – sondern sich selbst treu zu bleiben.

Partnerschaft und Beziehungen – Zwischen Vorurteilen und Realität
Männlichkeit wird oft mit Stärke, Unabhängigkeit und Leistungsfähigkeit verknüpft – und genau diese Vorstellungen prägen auch das Bild von Männern in Beziehungen. Doch was bedeutet das für Männer mit Behinderung? Häufig sehen sie sich mit Vorurteilen konfrontiert: Manche Menschen glauben, ein Mann im Rollstuhl könne kein attraktiver Partner sein oder keine erfüllte Sexualität erleben. Diese Klischees halten sich hartnäckig, auch wenn sie längst überholt sind.
Als Mann mit Behinderung begegne ich in Partnerschaften immer wieder unausgesprochenen Erwartungen daran, was ich können oder leisten sollte – sei es im Alltag oder in der Intimität. Diese Vorstellungen können Vorbehalte erzeugen, als müsste ich erst beweisen, dass ich ein Partner auf Augenhöhe sein kann. Solche Reaktionen zeigen, wie sehr klassische Vorstellungen von Männlichkeit und Behinderung noch immer gegeneinander gestellt werden.
Gleichzeitig zeigen meine Erfahrungen, dass es in einer Beziehung auf vieles ankommt – aber nicht darauf, ob man laufen kann oder nicht. Kommunikation, Humor, gegenseitige Unterstützung und der Wille, gemeinsam Lösungen zu finden, sind entscheidender als jede äußere Erwartung. Wer eine Beziehung auf Basis solcher Werte führt, stellt schnell fest, dass traditionelle Männlichkeitsbilder wenig mit echtem Zusammenhalt und Vertrauen zu tun haben.
Zunehmend gibt es jedoch positive Veränderungen. Durch mehr Sichtbarkeit und offene Gespräche wird deutlich, dass Männlichkeit in Beziehungen nicht an bestimmte körperliche Merkmale oder klassische Rollenbilder gebunden ist. Viel wichtiger sind Charakter, Humor und die Fähigkeit, auf Augenhöhe zu kommunizieren. Ich habe gelernt, dass es nicht darum geht, Erwartungen zu erfüllen, sondern eine Beziehung so zu gestalten, wie sie für beide passt – unabhängig davon, was andere denken.
Zeit für ein vielfältigeres Männerbild
Männlichkeit ist kein festgeschriebenes Konzept, sondern wandelbar – und dieser Wandel betrifft auch Männer mit Behinderung. Noch immer werden bestimmte Erwartungen an Männlichkeit gestellt, die oft mit Unabhängigkeit, Durchsetzungsvermögen oder traditioneller Rollenverteilung verknüpft sind. Doch diese Vorstellungen sind nicht universell. Vielmehr zeigt sich Männlichkeit in den individuellen Wegen, die ein Mann geht, in der Verantwortung, die er übernimmt, und in der Art, wie er mit Herausforderungen umgeht.
Für Männer mit Behinderung bedeutet dies, dass sie nicht in einem ständigen Rechtfertigungsmodus leben müssen. Sie sind nicht weniger männlich, nur weil sie manche Dinge anders lösen als ihre nichtbehinderten Geschlechtsgenossen. Die Gesellschaft braucht ein breiteres Verständnis von Männlichkeit, das Vielfalt zulässt und unterschiedliche Lebensrealitäten anerkennt.
Es geht darum, Sichtbarkeit zu schaffen und tradierte Bilder aufzubrechen. Jeder Mann sollte die Freiheit haben, seine eigene Version von Männlichkeit zu leben – ohne sich ständig an einem überholten Ideal messen zu müssen. Der gesellschaftliche Wandel ist bereits in Gang, doch es braucht weiterhin Gespräche, Vorbilder und Offenheit, um Männlichkeit in all ihren Facetten sichtbarer zu machen. Männer mit Behinderung gehören selbstverständlich dazu – und ihre Erfahrungen sind eine Bereicherung für das Verständnis von Männlichkeit insgesamt.

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